Dienstag, 30. August 2011

Der Mensch in der Falle: Wilhelm Reich zur Nacht

"Seit Jahrtausenden schon gibt es in der menschlichen Gesellschaft etwas, das buchstäblich jeden Versuch im Sande verlaufen ließ, das große Rätsel zu lösen, das allen großen Führern der Menschheit in den letzten Jahrtausenden wohlbekannt war: Der Mensch ist frei geboren, und doch geht er als Sklave durchs Leben.

[...]

Etwas wohl verborgenes ist am Werk, das es nicht zuläßt, die richtige Frage zu stellen. Dementsprechend ist es etwas, das ständig mit Erfolg die Aufmerksamkeit von dem sorgfältig getarnten Zugang ablenkt, auf den wir unser Augenmerk richten sollen. Das Mittel, dessen sich dieses gut getarnte Etwas bedient, um die Aufmerksamkeit von dem Haupträtsel abzulenken, ist die TENDENZ DES MENSCHEN, den Problemen des lebendigen Lebens AUSZUWEICHEN. Das verborgene Etwas ist die emotionale Pest des Menschen.

[...]

Wohin wir uns auch wenden, wir sehen den Menschen im Kreis umherlaufen, wie in einer Falle, deren Ausgang er in Verzweiflung vergeblich sucht.
Es IST aber möglich, aus einer Falle herauszukommen. Um jedoch aus einem Gefängnis ausbrechen zu können, muß man erst einmal zugeben, daß man in einem Gefängnis sitzt. Die Falle ist die emotionale Struktur des Menschen, seine Charakterstruktur. Es hat wenig Sinn, Denksysteme über das Wesen der Falle zu entwerfen, wenn das einzige, was man zu tun hätte, um aus der Falle herauszukommen, darin besteht, daß man die Falle erkennt und ihren Ausgang findet. Alles andere hat überhaupt keinen Sinn: Hymnen darüber zu singen, wie sehr man in der Falle leidet, wie es der versklavte Neger tut; oder Gedichte über die Schönheit der Freiheit außerhalb der Falle zu schreiben, von der man in der Falle träumt; oder ein Leben außerhalb der Falle nach dem Tode zu versprechen, wie es der Katholizismus seinen Gläubigen verspricht; oder sich zu einem semper ignorabimus zu bekennen, wie es resignierte Philosophen tun; oder ein philosophisches System um die Verzweiflung am Leben in der Falle zu errichten, wie es Schopenhauer getan hat; oder sich einen Übermenschen zu erträumen, der sich von dem Menschen in der Falle total unterscheidet, wie es Nietzsche getan hat, bis er, selbst in der Falle eines Irrenhauses gefangen, endlich die volle Wahrheit über sich selber schrieb - zu spät...
Allererste Aufgabe ist es, den Ausgang aus der Falle zu finden. Wie die Falle beschaffen ist, interessiert überhaupt nicht, abgesehen von dieser einen entscheidenden Frage: WO IST DER AUSGANG AUS DER FALLE?
Man kann eine Falle ausschmücken, um das Leben darin angenehmer zu gestalten. Das haben z.B. Michelangelo, Shakespeare und Goethe getan. Man kann sich irgendwelche Hilfsmittel ausdenken, um das Leben in der Falle zu verlängern. Das haben die großen Naturwissenschaftler und Ärzte getan, z.B. Meyer, Pasteur und Flemming. Man kann auch eine große Kunstfertigkeit im Heilen von gebrochenen Knochen entwickeln, für die, die in der Falle stürzen.
Doch der entscheidende Punkt ist und bleibt: den Ausgang aus der Falle zu finden. WO IST DER AUSGANG IN DEN FREIEN, ENDLOSEN RAUM?
Der Ausgang bleibt verborgen. Das ist das größte aller Rätsel. Das Lachhafteste und zugleich Tragischste aber ist dies: DER AUSGANG IST FÜR ALLE IN DER FALLE DEUTLICH SICHTBAR, UND DENNOCH SCHEINT NIEMAND IHN ZU SEHEN. JEDERMANN WEISS, WO DER AUSGANG IST, UND DENNOCH SCHEINT NIEMAND AUF IHN ZUZUGEHEN. MEHR NOCH: WER IMMER AUCH AUF DEN AUSGANG ZUGEHT ODER AUF IHN ZEIGT, WIRD FÜR VERRÜCKT ERKLÄRT, ODER MAN NENNT IHN EINEN VERBRECHER ODER EINEN SÜNDER, DER IN DER HÖLLE BRATEN SOLLTE.
Es zeigt sich, daß das Problem nicht die Falle ist, und auch nicht die Schwierigkeit, den Ausgang zu finden. Das Problem liegt BEI DENEN, DIE IN DER FALLE SITZEN.
All dies ist - von außen gesehen - für ein schlichtes Gemüt schier unverständlich. Es ist sogar irgendwie verrückt. Warum erkennen sie den deutlich sichtbaren Ausgang nicht und gehen zu ihm hin? Sobald sie in die Nähe des Ausgangs kommen, fangen sie an zu schreien und laufen weg. Sobald einer unter ihnen versucht, ins Freie zu gelangen, schlagen sie ihn tot. Nur ganz wenige schlüpfen in dunkler Nacht, wenn alles schläft, aus der Falle heraus.

[...]

Das GRUNDSÄTZLICHE AUSWEICHEN VOR DEM WESENTLICHEN ist DAS Problem des Menschen. Dieses Ausweichen bzw. diese Tendenz, immer auszuweichen, ist Teil der Tiefenstruktur des Menschen. Das Weglaufen vom Ausgang der Falle ist eine Folge dieser Struktur. Der Mensch fürchtet und haßt den Ausgang der Falle. Grausam bekämpft er jeden Versuch, den Ausgang zu finden. Das ist das große Rätsel.
Das alles klingt sicher verrückt für die, die in der Falle sitzen. Es würde für den, der so verrückte Dinge sagt, den sicheren Tod bedeuten, wenn er mit ihnen zusammen in der Falle säße: wenn er Mitglied einer wissenschaftlichen Akademie wäre, die viel Zeit und Geld dafür verwendet, die Wände der Falle in allen Einzelheiten zu studieren; oder wenn er einer Kirchengemeinde angehörte, die voller Resignation oder Hoffnung darum betet, aus der Falle hinauszugelangen; wenn er der Ernährer einer Familie wäre, deren einzige Sorge ist, nicht in der Falle zu verhungern; oder wenn er Angestellter eines Industriekonzerns wäre, der sich bemüht, das Leben in der Falle so angenehm wie möglich zu machen. Es würde für ihn der Tod in dieser oder jener Form bedeuten: Man würde ihn ächten, wegen Verletzung irgendeines Gesetzes ins Gefängnis werfen oder bei entsprechenden Voraussetzungen auf den elektrischen Stuhl bringen. Verbrecher sind Menschen, die den Ausgang aus der Falle finden und darauf zustürzen, wobei sie gegen ihre Mitmenschen Gewalt anwenden. Geisteskranke, die in Anstalten dahinsiechen und wie die Hexen im Mittelalter gequält werden, indem man sie z.B. unter Elektroschocks zusammenkrampfen läßt, sind ebenfalls Menschen in der Falle, die den Ausgang gesehen haben, aber das Grauen nicht überwinden konnten, das sie erfaßt hat, als sie sich ihm genähert haben.
Außerhalb der Falle, ganz in nächster Nähe, existiert das lebendige Leben um einen herum in allen Dingen, die das Auge sehen, die das Ohr hören und die die Nase riechen kann. Für die Opfer in der Falle bedeutet das ewige Qualen, ähnlich denen des Tantalus. Sie sehen es, sie fühlen es, sie riechen es, und sie sehnen sich unablässig danach, aber sie können nie und nimmer durch den Ausgang der Falle hinaus. Es ist einfach unmöglich geworden, aus der Falle hinauszukommen. Sie erleben es in Träumen und bei Gedichten, beim Anhören großer Musik oder beim Betrachten von Gemälden, aber es ist nicht mehr in ihnen selbst, in ihrer eigenen Motilität. Die Schlüssel zum Ausgang sind in den eigenen Charakterpanzer und die mechanische Steifheit ihrer Körper und Seelen einbetoniert.
Dies ist die große Tragödie. [...] Wer zu lange in einem dunklen Keller gelebt hat, haßt die Sonne. Es kommt sogar vor, daß das Auge das Licht nicht mehr ertragen kann; so entsteht der Haß auf das Sonnenlicht.
Um ihre Nachkommen an das Leben in der Falle zu gewöhnen, haben die Falleninsassen ausgefeilte Techniken entwickelt, das Leben straff auf einem niedrigen Niveau in Gang zu halten. Für große Gedankenflüge oder außergewöhnliche Taten ist kein Raum in der Falle. Jede Bewegung ist nach allen Seiten hin gehemmt. Das hat im Laufe der Zeit dazu geführt, daß gerade die Organe des lebendigen Lebens verkümmerten. Die Menschen in der Falle haben jedes echte, volle Lebensgefühl verloren.
Geblieben ist jedoch eine tiefe Sehnsucht nach Lebensglück und die Erinnerung an ein glückliches, längst vergangenes Leben vor dem Zuschnappen der Falle. Aber Sehnsucht und Erinnerung können im wirklichen Leben nicht gelebt werden. Aus solcher Einengung und Verklemmung ist daher Haß gegen das Leben entstanden." [Hervorhebungen vom Verfasser, Christusmord, Ullstein, S. 29 ff.]

RogRog


Ja, die Herrschaft bestimmt, welche Lebenslügen gelehrt und gepaukt werden in den „Schlachthäusern und Garküchen des Geistes“, wo „große Gedanken lebendig gesotten und klein gekocht“ werden.

Nietzsche und alle Philosophen vor ihm konnten noch nichts wissen vom richtigen Menschen, denn sie kannten nur den Bürger, den unterworfenen Knecht in seiner tributleistenden, monogamen Paarungsfamilie, und deshalb zogen sie auch vereinzelt falsche Schlüsse. Die heutigen Philosophen und Soziologen könnten es aber wissen, wenn sie nicht ausdrücklich und devoterweise nicht wissen oder verkünden wollten, was wahr ist. Aber diejenigen, die es wissen wollen (Sofsky beispielsweise), werden, wie Reich schreibt, für verrückt erklärt und/oder bekämpft, sowohl von den Gefangenen als auch von den Wärtern, die selbst Gefangene sind, ohne es zu ahnen, die Schergen der Herrschaft in den öffentlichen Lehranstalten, den „Schlachthäusern und Garküchen des Geistes“.

 Zarathustra, 17.07.2011, 16:53

Die Falle ist nach Reich die charakterliche, muskuläre und/oder plasmatische Panzerung des Menschen, also die chronisch erstarrte Reaktionsweise des Organismus, die er sich im Laufe seines Lebens (vom Beginn im mütterlichen Organismus an) durch traumatische Erlebnisse, Erziehung etc. angeeignet hat. Das ungepanzerte Leben pulsiert dagegen (Herz, Lunge, Blase, Magen-Darm-Trakt, vegetatives Nervensystem, Zellen, Wachstum/Schrumpfung, Orgasmus). Die Pulsation (Expansion, Kontraktion) ist für jeden deutlich sichtbar.

Wenn man sich anguckt, wie die Reaktionen auf Reich ausgefallen sind (Hetzkampagnen etc. bis zum heutigen Tag, neuestes Beispiel: Christopher Turner - Adventures in the Orgasmatron), dann erkennt man ohne großes Studium, was er mit dem obigen Satz meint. Es reicht seine wissenschaftliche Autobiographie von 1942 "Die Funktion des Orgasmus" zu lesen und das mit dem zu vergleichen, was über ihn geschrieben wird/wurde, um sich zu überzeugen, dass es eine Tendenz in der Gesellschaft gibt das ungepanzerte Leben zu hassen.

Das nicht-gepanzerte Leben funktioniert nach bestimmten Naturgesetzen und reguliert sich selbst. Diese Selbstregulierung geht Hand in Hand mit Verantwortungsfähigkeit. Die Panzerung führt zu sekundären Emotionen, die zwangsmoralische Regulierung erfordern. Darauf beruht die Herrschaft.

Und nun zum Allerwichtigsten: Die Panzerung funktioniert automatisch! Das autonome Nervensystem zeichnet sich dadurch aus, dass es unabhängig vom Willen funktioniert. Man kann die Panzerung nicht mal eben durch intellektuelles Verständnis abstreifen. Wenn Du iwann mal mit Deiner Frau/Freundin Streit hattest und es kam zu dem Punkt: "So bin ich eben. Das ist mein Charakter, dagegen kann ich nichts machen", dann verstehst Du schon ein bisschen, was (charakterliche) Panzerung ist.


RogRog, 28.08.2011, 14:38


.. nämlich die Empirie und die Anthropologie, bzw. einfach nicht genug darüber wusste, wissen konnte damals? Der Mensch vegetiert ja erst seit 500 Generationen in der Falle, während er mindestens 200 mal länger, während 100'000 Generationen ohne diese Falle lebte. Ist es deshalb nicht eher eine grundsätzlich systemische Frage, wie es Graeber aufzeigt?
Mir erscheint es jedenfalls unlogisch, die Individuen innerhalb eines Herrschaftssystems aus der Falle herausbekommen zu können. Das muss doch auf ewig vergebliche Liebesmüh sein, wenn wir nicht das unfamiliäre, anonyme System der Herrschaft und Unterwerfung beseitigen.

Grüsse,  Zarathustra



das hast Du mich ja schonmal gefragt und ich hatte Dir geantwortet, dass ich für Spekulationen über die Urgeschichte nicht zugänglich bin. Malinowski hat die Trobriander beschrieben, die eine matriarchale Gemeinschaft im Übergang war und für deren Mitglieder mehrheitlich die sexuelle Freiheit galt. Malinowski, als Psychoanalytiker, fand in dieser Gemeinschaft keine Neurosen. Von dieser und vllt noch anderen Einzelbeispielen, also aus einer Summe von Fällen auf die Gesamtheit, eine ganze Kulturepoche oder sogar die ganze Urzeit zu schließen, halte ich für spekulativ.

> Mir erscheint es jedenfalls unlogisch, die Individuen innerhalb eines
> Herrschaftssystems aus der Falle herausbekommen zu können.

Reich findet das auch ziemlich sinnlos. Deshalb hat er seinen Fokus iwann auf die Erforschung der Entwicklung des gesunden Kindes gelegt, also was für Bedingungen erfüllt sein müssen, damit sich in Heranwachsenden keine Panzerung entwickelt. Seine Lösung war nicht Therapie, sondern Prophylaxe.

> Das muss doch
> auf ewig vergebliche Liebesmüh sein, wenn wir nicht das unfamiliäre,
> anonyme System der Herrschaft und Unterwerfung beseitigen.

Von heute auf morgen geht aufgrund der Verantwortungsunfähigkeit sowieso nichts. Reich hält nicht viel von Revolutionen. Das unfamiliäre, anonyme System der Herrschaft beseitigen und die Menschen auffordern sich selbst zu verwalten, würde ungefähr so viel bringen, wie Querschnittsgelähmten den Rollstuhl wegnehmen und sie zum Gehen auffordern. Das Projekt "Die Kinder der Zukunft" war ein evolutionäres.



RogRog



Emotionen werden hier - wie das üblich ist - als Gegensatz zum Verstand, als irrational beschrieben. Spätestens hier hätte Reich dem Dürrenmatt widersprochen. Reich unterscheidet primäre von sekundären Emotionen. Primäre sind rational, sekundäre irrational und entstehen durch die Unterdrückung ersterer. Die fünf primären Emotionen sind: Lust, Angst, Wut, Trauer und Sehnsucht. Dem gepanzerten Menschen sind Emotionen (=Herausbewegung) zuwider, zu beweglich, zu laut, zu triebhaft, zu lebendig. Er hasst das Leben.

Kinder leben diese primären Emotionen noch ungehemmt aus, wenn die pränatale und postnatale Entwicklung nicht allzu traumatisch verlaufen ist (spastischer Mutterleib, spastische Mutterbrust, Kontaktlosigkeit ua). In aller Regel entwickeln sich hier jedoch schon die ersten psychosomatischen Panzerungen. Eltern sind größtenteils vollkommen hilflos gegenüber dem Erkennen der Bedürfnisse des Kindes, solange es noch nicht sprechen kann.

Und schon setzt die Erziehung ein und ich weiß in etwa, wie das heutzutage abläuft, da ich seit zwei Jahren Onkel bin. Natürlich von den "besten" Ärzten beraten, gibt es nach einem bestimmten Zeitplan zu "essen" (Brust). Zu bestimmten Zeiten wird geschlafen, es muss früh gelernt werden mit Besteck zu essen, es muss dies, es muss das. "Nein, Emi!" "Ja, Emi!" "Gut, Emi." Dressur. Es wird hinter dem Kind hinterhergelaufen, da man Angst hat es würde ihr iwas zustoßen. Innerlich komme ich aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus, habe aber auch wegen einer schwierigen Familiensituation keine Einflussmöglichkeit.

Ist es da verwunderlich, wenn das Kind iwann stur und brav folgen wird, wo immer man hingeht?

Das Tragische an der Sache ist, dass Kinder mit der Zeit lernen ihre primären, rationalen Emotionen zu kontrollieren. Wut kann man zB runterschlucken, in dem man auf eine ganz bestimmte Art und Weise atmet und sich muskulär verkrampft. Wird diese Haltung chronisch, spricht Reich von einem Panzer. Chronisch heißt, dass man selbst nicht mehr dazu in der Lage ist den Panzer zu lösen, selbst wenn man sich der Sache mit seinem messerscharfen Ratio-Verstand bewusst ist. Es ist ein Verlust an Beweglichkeit. Wenn es angebracht wäre, kann dieser Mensch nicht mehr wütend werden. Seine Reaktion wäre der Situation entsprechend also vollkommen irrational! Freiheitsunfähigkeit.




"Charakterpanzerung. Die Gesamtheit typischer Charaktereinstellungen, die ein Individuum zur Abwehr seiner emotionalen Erregungen entwickelt und zur Verkrampfung des Körpers, zum Ausfall des emotionalen Kontakts, zur Erstarrung führen. Funktional identisch mit der muskulären Panzerung."

"Die Verkrampfung der Muskulatur ist die körperliche Seite des Verdrängungsvorganges und die Grundlage seiner dauernden Erhaltung. Es sind nie einzelne Muskeln, die in Spannung geraten, sondern Muskelkomplexe, die zu einer vegetativen Funktionseinheit gehören. Wenn z.B. ein Weinimpuls unterdrückt werden soll, so wird nicht etwa nur die Unterlippe verkrampft, sondern auch die gesamte Mund- und Kiefermuskulatur sowie die entsprechende Halsmuskulatur; diejenigen Organe also, die als funktionelle Einheit beim Weinen in Tätigkeit kommen. Wir denken dabei an die bekannte Erscheinung, daß hysterische Personen ihre Körpersymptome nicht nach anatomischen, sondern nach funktionellen Gebieten abgrenzen. Ein hysterisches Erröten folgt nicht der Verzweigung einer bestimmten Arterie, sondern erfaßt etwa ausschließlich den Hals oder die Stirn. Die vegetative Körperfunktion kennt nicht die anatomischen Abgrenzungen, die wir künstlich durchführen."

Der Panzer des neurotischen Charakters ist chronisch und autonom (es liegt also nicht in Deiner Hand ihn zu lösen, wie Du in einem anderen Post da vor Dich hin phantasierst), der des genitalen Charakters nicht. Steht übrigens auch schon in dem verlinkten Post von mir.

Aha, Yoga! Gutes Stichwort:

"Unsere Kinder besorgen die >Absperrung der Gefühle im Bauch< mit Hilfe der Atmung und der Bauchpresse in typischer, allgemeingültiger Weise. Mit dieser Technik der Affektbeherrschung, der universellen Joga-Kulturen, hat die Vegetotherapie schwer zu ringen."

"Man warf mir vor, daß ich der Utopie anhinge, die Unlust aus der Welt schaffen und einzig die Lust sichern zu wollen. Dagegen stand meine Behauptung in Schrift und Wort, daß die übliche Erziehung den Menschen lustunfähig macht, indem sie ihn gegen die Unlust panzert. Lust und Lebensfreude sind ohne Kampf, schmerzhafte Erfahrungen und unlustvollen Kampf mit sich selbst undenkbar. Nicht die Leidlosigkeitstheorie der Yogi und der Buddhisten, nicht die Genußphilosophie des Epikur*, nicht die Entsagung des Mönchtums, sondern der Wechsel von unlustvollem Kampf und Glück, von Irrtum und Wahrheit, Fehltritt und Besinnung, rationalem Haß und rationaler Liebe, kurz, die volle Lebendigkeit in allen Lebenssituationen ist das Kennzeichen seelischer Gesundheit. Die Fähigkeit, Unlust und Schmerz zu ertragen, ohne enttäuscht in die Erstarrung zu flüchten, geht einher mit der Fähigkeit, Glück zu nehmen und Liebe zu geben. Um mit Nietzsche zu reden: Wer das >Himmel-hoch-Jauchzen< lernen will, muß sich auf für das >Zum-Tode-betrübt< bereit halten. Unsere europäische gesellschaftliche Anschauung und Erziehung machte aber aus den Jugendlichen, je nach sozialer Lage, entweder in Watte gepackte Püppchen oder ausgedörrte, lustunfähige, chronisch unlustige Maschinen der Industrie und des >Geschäfts<.

*Dieser Begriff wird hier im Sinne der Umgangssprache verwandt. In Wirklichkeit haben Epikur und seine Schule außer dem Namen nichts gemein mit der sogenannten >Epukreischen Lebensphilosophie<. Die ernste Naturphilosophie Epikurs wurde von den halbgebildeten und ungebildeten Menschenmassen in einer bestimmten Weise interpretiert: Sie wurde als Befriedigung sekundärer Triebe verstanden. Es gibt keine Mittel, sich gegen eine solche Verfälschung richtiger Gedanken zu verteidigen. Die Sexualökonomie ist von dem gleichen Schicksal bedroht [68er-Bewegung!] durch jene menschlichen Wesen, die unter Lustangst und einer Wissenschaft leiden, die sich vor der Sexualität fürchten."

"Der komplizierte Bau des seelischen Apparats gestattete, meinte er [Freud] weiter, eine Reihe von Beeinflussungen. Wie Triebbefriedigung Glück sei, so werde sie Ursache schweren Leidens, wenn die Außenwelt uns darben läßt und die Sättigung der Bedürfnisse verweigert. Man könnte also hoffen, durch Einwirkung auf die Triebregungen (nicht also auf die Welt, die darben läßt!) von einem Teil des Leidens frei zu werden. Diese Beeinflussung suchte der inneren Quellen der Bedürfnisse Herr zu werden. In extremster Weise geschähe dies, indem man die Triebe ertötet, wie die orientalische Lebensweisheit lehrt und die Yogapraxis ausführt."

"Sein [es ist die Rede vom gepanzerten Menschen] Haß richtet sich vor allem, es wäre nicht übertrieben zu sagen: einzig und allein, gegen alle echten und vollen Äußerungen des Lebendigen, gegen das Unwillkürliche, Hingebene, Enthusiastische, Schwingende, Tolle und Törichte im Leben. Er richtet sich vor allem gegen das Unwillkürliche und Freie im körperlichen Bereiche. In seiner destruktiven Haltung gegen das Lebendige ist der gepanzerte Organismus ohne Rücksicht. Hier verlieren sich die Eigenschaften, die er sonst zum Ideal des menschlichen Verhaltens erhoben hat. Unter der Maske idealen oder hygienischen Verhaltens versteht es der gepanzerte Organismus, jede spontane Lebensregung in sich selbst und in anderen Organismen zu ertöten. Man lese die folgende Anweisung, die sich 1945 in einer vielgelesenen New Yorker Zeitung fand, aufmerksam durch. Der Ratgeber hat die Bedeutung der Atmung erkannt. Er weiß über die Schädlichkeit schlechten Atmens Bescheid. Er will korrigieren, helfen. Doch welch ein Reglement von "Soll" und "Soll nicht" entrollt sich da!

Atemübungen

Die Wirkungen von Atemübungen sind so zahlreich wie wohltuend. Das Blut wird gereinigt, das Aussehen verbessert, und eine richtige Nahrungsaufnahme wird erleichtert, wenn wir richtig atmen.
Es gibt einige wertvolle Übungen, die die Körperhaltung verbessern, die Gesundheit der inneren Organe und richtiges Atmen fördern. Vielleicht möchten Sie diese in Ihren Tagesablauf integrieren.
Nr. 1:
Mit dem Rücken auf den Boden legen. Die rechte Hand aufs Zwerchfell legen. Langsam und tief einatmen. Während des Einatmens sollten sich Zwerchfell und Bauchwand zur Decke hin hochbewegen. Während des Ausatmens sollte die Fläche unter der Hand in die normale Position zurückkehren. Anschließend Bauchmuskeln anspannen und so lassen, und gleichzeitig den Rücken auf den Boden pressen und diesen soweit wie möglich mit dem Boden berühren.
Nr. 2:
In dieser Position bleiben. Tief einatmen und die Füße flach auf den Boden stellen. Das Einatmen beim Zwerchfell beginnen, so daß man eine seitliche Ausdehnung der Rippen spürt. Auf keinen Fall den oberen Brustkorb heben. Ausatmen durch einziehen und aufrichten der Bauchmuskeln, aber ohne daß dabei die Rippen einsinken. Nochmal ein- und ausatmen. Nun mehrmals hintereinander kurz einatmen. Ausatmen in mehreren kleinen, schnellen Atemstößen durch Zusammenziehen der Bauchmuskeln. Durch völliges Ausatmen und Einsinken des Brustkorbes die Übung abschließen.


Dieser Ratgeber empfielt genau das, was unser gepanzerter Kranker in biopathischer Weise zu tun versucht, wenn wir ihn auffordern, den Atem nicht anzuhalten. Er "tut", "übt", "demonstriert", "agiert" und "führt Atmung vor". Aber er atmet nicht entsprechend der natürlichen Innervation. Wir können dieses Beispiel beliebig auf alle Lebensäußerungen des gepanzerten Organismus übertragen. Ihr Wesen ist immer und bleibt stets die Vermeidung und Verhinderung der spontanen unwillkürlichen Lebensäußerungen. Der Gepanzerte mag in allen anderen Lebenslagen tolerant, ja liebreizend, freundlich und hilfsbereit sein. Er ist nur konsequent und rabiat, wenn er Lebendiges panzerfrei funktionieren sieht." [Fett von mir]

RogRog



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